1 Das Gebet eines Elenden, wenn er verzagt ist / und seine Klage vor Jahwe ergießt.
2 Jahwe, höre doch mein Gebet, / Laß meinen Notschrei zu dir dringen!
3 Verbirg dein Antlitz nicht vor mir, / Wenn ich in Bedrängnis bin! / O neige dein Ohr zu mir, / Wenn ich zu dir rufe. / Erhöre mich eilend!
4 Denn meine Tage sind wie ein Rauch vergangen So flüchtig und schnell., / Mein Gebein ist durchglüht wie ein Herd. In seinen Gebeinen wütet die Fieberglut.
5 Mein Herz ist wie Gras, vom Glutwind getroffen: es ist verdorrt; / Denn ich habe sogar vergessen, mein Brot zu genießen.
6 Vor lautem Jammern / Klebt mein Gebein mir am Fleisch.
7 Ich gleiche dem Pelikan in der Wüste, / Ich bin wie ein Käuzlein in Trümmerstätten. Wie die beiden Tiere den Aufenthalt in der Wüste und an Trümmerstätten lieben, so muß der Dichter fern von der Heimat auch gleichsam in der Wüste weilen.
8 Nachts bin ich schlaflos wie ein Vogel, / Der einsam sitzt auf dem Dach. Während in den Häusern alle schlafen.
9 Allzeit schmähen mich meine Feinde Zu den körperlichen Leiden des Psalmisten kommen noch seelische: er hat Feinde, die ihn verhöhnen, indem sie sagen, Gott habe ihn verlassen.; / Die wider mich rasen, schwören bei mir. D.h. wenn die Feinde fluchen wollen, so sprechen sie: "Es möge dir ergehen wie diesem!" Den Grund für ihre Meinung, Gott habe den Psalmisten verstoßen, nehmen sie aus seinem traurigen Zustand; sie gleichen darin Hiobs Freunden. Der Psalmist redet nun in V.10-12 von seinem Elend.
10 Denn Asche hab ich als Brot gegessen Trauernde setzten sich in Aschenhaufen (Hiob 2,8; Hes. 27,30). / Und mein Getränk mit Tränen gemischt.
11 Dein Grimm und Zorn hat das bewirkt: / Du hast mich vom Boden gehoben, dann niedergeschleudert.
12 Meine Tage sind wie ein langer Schatten Je mehr der Tag zu Ende geht, desto länger werden die Schatten., / Und ich selbst verdorre wie Gras.
13 Du aber, Jahwe, wirst ewig thronen, / Dein Gedächtnis währt in allen Geschlechtern.
14 Du wirst dich erheben, dich Zions erbarmen. / Denn Zeit ist's, ihm Gnade zu schenken: die Stunde ist da. In seiner Not hat aber der Psalmist den gewissen Trost, daß Gott sich nach der langen Gefangenschaft des Volkes in Babylonien doch endlich, ja bald über Zion und Jerusalem erbarmen wird.
15 Denn deine Knechte lieben seine Zions. Steine, / Und sein Schutt erfüllt sie mit Jammer. Sie trauern darüber, daß Jerusalem in Trümmern liegt.
16 Dann werden die Heiden Jahwes Namen fürchten / Und alle Könige der Erde deine Herrlichkeit Die Könige der Erde "fürchten" Gottes Herrlichkeit, d.h. sie sind mit Scheu und Ehrfurcht davor erfüllt.,
17 Wenn Jahwe Zion hat neugebaut, / In seinem Glanze erschienen ist.
18 Er hat ja der Heimatlosen Gebet Die Heimatlosen sind die in der Gefangenschaft Babels lebenden Juden. erhört / Und nicht verachtet ihr Flehen. V.18 zeigt, daß die Rückkehr der Juden aus Babel nach Jerusalem schon begonnen hat; Ps. 102 fällt demnach vielleicht in die Zeit zwischen 535 und 515 v.Chr.
19 Dies Die Gnade Gottes, die sich durch die Befreiung seines Volkes aus der babylonischen Gefangenschaft kundgetan hat. soll verzeichnet werden für spätre Geschlechter. / Ein Volk, das erst noch ins Dasein tritt Gemeint ist die jüdische Gemeinde, die sich nach der Rückkehr aus Babel in Jerusalem bildete., / Soll Jah Über den Gottesnamen Jah vgl. den Schluß der Einleitung. lobpreisen.
20 Denn er hat herabgeschaut von seiner heiligen Höhe, / Jahwe hat vom Himmel zur Erde geblickt,
21 Um der Gefangnen Seufzen zu hören, / Die dem Tode Verfallnen freizumachen Auch aus V.20 und 21 geht hervor, daß die Befreiung der Juden aus Babel durch den Perserkönig Cyrus schon stattgefunden und ihre Rückkehr nach Jerusalem bereits begonnen hat.,
22 Damit man in Zion von Jahwes Namen erzähle, / Von seinem Ruhm in Jerusalem,
23 Wenn die Völker alle zusammenkommen / Und die Königreiche, um Jahwe zu dienen. Die Wiederherstellung des von Gott erwählten Bundesvolkes wird auch die Bekehrung der Heiden zur Folge haben (s. auch V.16 und 17 dieses Psalms).
24 Auf dem Wege Mit Ed. König verstehe ich dies: "auf dem Wege von Babylon nach Jerusalem": der Dichter ist auf der beschwerlichen Reise zusammengebrochen und in den traurigen Zustand geraten, den er in V.2-12 geschildert hat. Aber in seinem Elend hält ihn die Hoffnung aufrecht, daß Gott die schon begonnene Wiederherstellung Zions und Jerusalems auch zum Heil der Heiden herrlich vollenden wird. Davon möchte er auch noch etwas schauen. Deshalb läßt er die Bitte in V.25 folgen. hat er Gott. meine Kraft gebrochen, / Er hat meine Tage verkürzt.
25 Nun ruf ich: "Mein Gott, raffe mich nicht weg / In der Hälfte meiner Tage!" Laß mich nicht vorzeitig sterben! / Deine Jahre währen ja / Bis in die fernsten Geschlechter. Für Gott, den Ewigbleibenden und Unveränderlichen, den Schöpfer aller Dinge, ist es ein kleines, das Leben des Psalmisten zu verlängern (V.25c-28).
26 Vorzeiten hast du die Erde gegründet, / Und die Himmel sind deiner Hände Werk.
27 Sie werden vergehn, du aber bleibst. / Sie alle veralten wie ein Kleid. / Du wirst sie wechseln wie ein Gewand, / Und sie werden verschwinden.
28 Du aber bleibst immer derselbe, / Und deine Jahre werden nicht enden. V.26-28 werden in Hebr. 1,10-12 auf Christus bezogen: er ist ewig und unwandelbar.
29 Deiner Knechte Kinder werden in Ruhe wohnen, / Und ihre Nachkommen werden vor dir bestehn. Wenn auch der Dichter selbst, nachdem er auf dem Weg von Babylon nach Jerusalem krank zusammengebrochen ist (V.24), nicht nach Kanaan gelangen sollte, so werden doch die Nachkommen derer, die sich jetzt nach der Heimkehr sehnen, nicht nur das Land der Väter sehen, sondern unter Gottes Schutz auch immer dort wohnen.